Vor und hinter der Bühne

Impressionen von Annette Boomes
Bevor der Vorhang fällt, mit dem Aussprechen des letzten Textes versinkt der Saal in absolute Stille! Wenige Sekunden – lange Sekunden – und ein ganzer Saal voller Zuschauer erwacht aus einem Traum. Erst einer, dann Einzelne, zuletzt fallen alle in den Applaus ein. Als wenn sich das Publikum aus seiner Benommenheit wach klatschen müsste, erwacht der Saal zu neuem Leben. Man ist wieder angekommen. Sitzend auf seinem Stuhl. Manch einer stellt sich auf. Ergriffen, gerührt oder einfach nur beeindruckt schenkt das Publikum seine Gunst – sein Dankeschön – den Spielern und Spielerinnen.

Vergessen sind die Mühen der vergangenen Tage. Das nervöse „Geht das wohl gut?“ Die Ängste, ob das Vorhaben geschafft werden kann. „Werden auch wir so sein wie die anderen Klassen, die so gut waren? Oder vielleicht gar ein kleines bisschen besser? Familienangehörige fremdeln vor ihren Kindern. Solch Energie, Leidenschaft, Festigkeit oder Mut hätten sie nie erwartet. Ein anderes Kleid, eine andere Frisur und dann das Ausleben einer Rolle. War das wirklich unsere Tochter, unser Sohn?! Unglaublich! Erst nun wird vielen deutlich, welch eine intensive Reise die Klasse durchlebt hat. Warum es nötig war, sich so ganz auf das Theaterspielen einzulassen. – Spielen? Wie kann man etwas spielen, wenn es so hart erkämpft und durch Krisen gehend erprobt wurde? Nun zeigt sich, dass dies, was hier geleistet wurde, mit viel Disziplin erarbeitet worden ist.

Eine gute Organisation bildet die Schale, aus der die Kunst zur Freiheit gelangen kann. Wenn jeder Gang, jeder Lauf und jede Position auf der Bühne sitzt, wenn Texte gelernt und mit ganzer Seele verstanden sind. Wenn die Emotionalität des Auftrittes stimmt – dann erst können die Spieler und Spielerinnen frei spielen. Weg mit den Stützrädern und Geländern! Der oder die Einzelne erlebt die Stärke der Gemeinschaft, so wie auch die Gemeinschaft emporgezogen wird durch die Leistung die die Einzelnen entwickelt haben. Schüchterne Schülerpersönlichkeiten sprechen mit klarer Sprache den ganzen Saal erfüllend. Schüler, die sonst im Sozialen eher am Rande stehen, erstrahlen durch ihre klare Präsenz und gute Organisation. Aber auch diejenigen, die sich sonst in den Pausen so lautstark hervortun, entdecken: Hier kommt es auf sehr viel mehr an, als auf ein paar flotte Sprüche.

Die Aufgabe der begleitenden Lehrer ist es, die Gemeinschaft zu stützen. Den Jugendlichen in der Fülle der Gewerke Aufgaben zu vermitteln, in die sie hineinwachsen können. Sodass es am Ende ihr Stück werden kann. Nie dürfen wir dabei vergessen, dass wir ein Laientheater sind. Jede und jeder erhält eine Rolle. Auch die, welche sich als völlig talentfrei erleben. Sind die Rollen verteilt und der Text ausgegeben, dann beginnt die Arbeit der Kostümregie.

Elemente der Kostümregie:

  • Ein gutes Soziogramm hilft: Welche Rolle ist verwandt oder befreundet mit welcher anderen?
  • Welcher Art sind die Alters- und Standesunterschiede
    („Der Mantel macht den Herrn!“)
  • Steckbriefe: Wer bin ich? Wie kann man das Leben dieser Figur in die Zeit des Stückes einordnen? Welche Veränderungen erlebt sie im Verlauf der Handlung?
  • Der Farbkreis gibt eine Orientierung bei der Auswahl der Kostüme:
  • Freunde harmonisieren miteinander.
  • Paare zeigen auch Farbimpulse des anderen.
  • Seelische Disharmonien zeigen sich auch durch unechte
    Farbkontraste.

In all den Jahren habe ich Stück für Stück dank Spenden, Haushaltsauflösungen, Basare und Einkäufe einen passablen Kostümfundus aufgebaut, dessen vielfältige Kombinationsmöglichkeiten sich immer wieder bewähren. Bei doppelter Rollenbesetzung (verschiedene Kleidergrößen!) kommt man schnell auf 60 Kostüme pro Produktion. Für diese Organisation braucht die Schüler und Schülerinnen eine klare Anleitung. (Listenführung / Arbeitsaufträge)

Die Jugendlichen erhalten Figurinen (weibliche und männliche Silhouetten), die sie „anziehen“ dürfen. Die Treffendsten bilden die Grundlage für das weitere Vorgehen. Dann geht es auf die Suche im Fundus: „Haben wir das?“, „Lässt sich etwas dahingehend umgestalten?“

Entscheidend für den Charakter einer Rolle sind die Accessoires! So etwa die Brille für den Gelehrten, das Stethoskop für den Arzt, das kleine Handtäschchen mit unendlich viel Kleinkram darin für die nervöse Oma … Diese Requisiten helfen den Schülern in ihren Rollen hineinzufinden. Auch löst sich so ein wenig das leidige Problem: Wohin mit den Händen??? Requisiten beflügeln auch die Phantasie: Bilder mit Goldrahmen, dazu weinrote Stuhlhussen und weiße Spitzentischdecken – schon sind wir in der „Pension Schöller“. Die gleichen Stühle, ohne Hussen und Tischwäsche, aber mit Zeitungen: ein Bistro! Und nun ein Tisch mit karierten Tischdecken, einem Hirschgeweih und einem Jägerbild an der Wand: Bei „Herrn Klapproth“ zuhause. Was Farben ausmachen können, erlebten wir noch deutlicher bei Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“: Vier Stühle bilden ein Auto (so die Regieanweisung des Autors). Der „Sohn“ als Fahrer erhält ein rotes Hemd und eine Lederjacke. Was fährt er nun für einen Wagen? – Ganz klar: ein schnelles Auto. So wie es in einem Stück von Agathe Christie heißt: „Ein Ferrari kann jede Farbe haben, wenn er nur rot ist.“

Zieht die Bühne um an den Ort der Aufführungen, sind schon die ersten Durchlaufproben gelaufen. Die erprobten Einzelszenen wurden wie die Perlen auf einer Kettenschnur zusammengefasst. Nun erst erkennt man die Anschlussfehler.

  • Eine Durchlaufprobe dauert etwa doppelt so lange wie die Aufführung am Ende.
  • Bei einer Hauptprobe sollte alles da sein, was das Stück am Ende braucht ( Möbel, Requisiten …)
  • Bei der Generalprobe müssen die Schüler ihre Pannen selbst bezwingen.
    Bis zu den Aufführungen hat sich die Bühne eingerichtet und neue Aufgabenfelder haben sich gefunden:

RequisiteurIn:
Alle tragbaren Requisiten sind hinter der Bühne an einem fes-ten Platz abgelegt. Gläser sind sauber gespült, Karaffen gefüllt. Sind die Notizblöcke alle da? …

Inspizient oder Inspizientin:
Stehen die SpielerInnen für die nächste Szene mit ihren Requisiten bereit? Hinter der Bühne sehen die Spieler nicht, was vor und auf der Bühne vor sich geht.

Umbau:
Welche Schüler sind frei für Szenenwechselumbauten?
Was kommt wohin?

Beleuchtung/Technik:
Wer von den Spielern ist noch frei und hat dafür ein Händchen? Auch Klangeinspielungen müssen gesucht und bearbeitet werden.

Kostüme:
Hängen alle Kostüme nach der Aufführung auf ihren Bügeln an ihrem Platz? Wurden beim Zusammenfalten die Bügelfalten beachtet?

Maske:
Es ist schön zu sehen, wie die Schüler sich gegenseitig helfend zur Hand gehen. Das gegenseitige Frisieren beruhigt die Gruppe.

Bühnenbau:
Bis zuletzt gibt es Nachbesserungen. Ein Nagel, der rutscht – eine Tür, die klemmt …

Die Applausordnung
ist festgeklebt an der Rückseite einer Kulissenwand; es wurde geprobt, wer mit wem in welcher Reihenfolge und durch welche Tür hereinkommt…

Liebe Theaterfreunde, es gibt immer ein Stück im Stück: Ein Parallelspiel, das hinter der Bühne stattfindet: Umgefallenen Gläser, Suchen im Dunkeln, lautes Flüstern, Briefe, die noch auf die Bühne geschmug­gelt werden müssen, weil sie nicht da lagen, wo sie zu liegen hatten. Kleider, die plötzlich reißen, unauffindbare oder kaputte Requisiten… Dazu kommen noch die ungewollten Textüberspringer, die den Schülern hinter der Bühne erst den richtigen Adrenalinspiegel bescheren („Was, wir sind schon da????“)

Zu guter Letzt seien hier noch einige meiner „Allzweckwaffen“ genannt: Panzertape, Teppichklebeband, Sicherheitsnadeln, Eddingstifte und viel Humor! Damit kommt man schon sehr weit und das wichtigste ist natürlich: RUHE BEWAHREN!

Figurinen zur Kostümfindung bei „Pension Schöller“, Klassenstück der 8. Klasse 2022
Blick in den Kostümfundus der Freien Waldorfschule in Otterberg