Eurythmie

In der Eurythmie (gr. „eu“ für schön, harmonisch, wohlgeordnet und „rhythmos“  gegliederte Bewegung) kommt, wie in allen Künsten der Menschheit, das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zur Welt und zum Kosmos zum Ausdruck. Anders aber als bei den anderen Künsten wie der Sprach- und Dichtkunst, der Malerei, der plastischen Kunst, der Musik, dem Gesang, dem Schauspiel, dem Tanz und der Baukunst, die alle in vorchristlicher Zeit bereits entstanden sind, ist die Eurythmie als Schöpfung des 20. Jahrhunderts eine recht junge Bewegungskunst und steht erst noch am Anfang ihrer Entwicklung.

In der Geschichte der Menschheit diente der Tanz immer der Vermittlung zwischen der Menschenwelt und der Götterwelt, zwischen innen und außen und zwischen Mensch und Raum. Im Laufe vieler Jahrhunderte entwickelten sich zwei polare Ansätze: die dionysische und die apollinische Ausdrucksform.

Im dionysischen Element, benannt nach Dionysos, dem griechischen Gott der Fruchtbarkeit, des Ackerbaus, des Weines, des Rausches und der Extase, liegt der Bewegungsansatz im Inneren des Menschen und der Mensch findet für diese innere dionysische Kraft eine Ausdrucksform in der tänzerischen Bewegung. Die eigene Seele mit ihren Kräften offenbart sich der Welt.

Im apollinischen Bewegungselement, benannt nach Apollo, dem griechischen Gott der Musik, des Lichts und der Dichtung, kommen die Gestaltungsimpulse von außen aus der Welt und dem umgebenden Raum. In der Innenwelt werden sie zum Erlebnis und aus dem verarbeiteten Erlebnis heraus wird die Bewegung gestaltet. Es sind gestaltende, Ordnung schaffende Kräfte, die der Mensch beispielsweise im Verlauf der Gestirne erleben konnte und sie in entsprechenden Tempeltänzen in Bewegungen abbildete.

Gerade im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vollzog sich eine Abkehr von den damals gültigen Idealen in der Welt des Tanzes. Die bestehende Balletttradition wurde hinterfragt und es entwickelten sich ganz neue, freiere Tanzstile, mal mehr dionysisch-expressiv (W. Nijinsky, Isadora Duncan, Mary Wigman) oder mehr apollinisch-impressiv (Oskar Schlemmer).

In diese Zeit hinein fiel die Entwicklung der Eurythmischen Kunst, in der sich gleichberechtigt nebeneinander beide Erlebens- und Ausdrucksweisen, das dionysisch-expressive Element wie auch das apollinisch-impressive Element wiederfinden und zusammen in Erscheinung treten.

Erste Ansätze zu einer neuen eurythmischen Bewegungskunst gab es bereits 1908. Rudolf Steiner hielt einen Vortrag über den Prolog des Johannes-Evangeliums, in dem es um das Weltenwort, den Logos ging und stellte einer bekannten russischen Malerin, Margareta Woloschin, die im Vortrag anwesend war, eine zukunftsweisende Frage: „Könnten Sie das tanzen?“

Margareta Woloschin griff diese Frage nicht weiter auf und es vergingen weitere vier Jahre, bis eine andere junge Frau, Lory Maier-Smits, auf der Suche nach einer beruflichen Ausbildung, sich offen für eine neue Bewegungskunst zeigte. Ab 1912 wurde in beidseitigem Zusammenwirken die neue Bewegungskunst der Eurythmie entwickelt und sie fand sich in pädagogischer Form sieben Jahre später im Fächerkanon der 1919 begründeten Waldorfschule wieder.

Obwohl ursprünglich als Bühnenkunst inauguriert, wurde sie schon bald für andere Lebensbereiche weiter entwickelt. In jeweils differenzierter Ausgestaltung fand sie als Schuleurythmie Eingang in die Waldorfpädagogik, im sozialen Arbeitsleben wurde sie als Betriebseurythmie eingesetzt und im medizinisch-therapeutischen Bereich als Heileurythmie. Als solche findet man sie heute in freier Praxis und in entsprechenden, meist anthroposophisch orientierten Krankenhäusern und in ihrer, an die Bedürfnisse der Pädagogik angepassten und diese unterstützenden Form, auch in den Waldorfkindergärten und -schulen.

Sprache und Gesang/Musik sind zwei Äußerungsformen, denen nur der Mensch mächtig ist. Kein Tier ist in der Lage, etwas auch nur annährend Ähnliches hervorzubringen. Mittels Sprache und Musik äußern sich menschlicher Geist und menschliche Seele im sozialen Leben und befördern die kulturelle Entwicklung der Menschheit.

Rudolf Steiner erforschte sinnlich-übersinnlich die seelisch-geistigen Kräfte von Sprache und Musik und deren innere Bewegungen und Gesetzmäßigkeiten. Die so gefundenen Bewegungen finden sich wieder in den eurythmischen Bewegungen der Gliedmaße. Wirken diese seelisch-geistigen Kräfte im Leiblichen, so betätigen sie sich am Aufbau und an der Aufrechterhaltung aller Funktionen des Organismus. In der anthroposophischen Terminologie werden sie unter dem Begriff Bildekräfte oder ätherische Kräfte zusammengefasst.

In der eurythmischen Bewegung werden die den Lauten der Sprache und den musikalischen Elementen zugrunde liegenden ätherischen Bewegungen mit dem Körper nachvollzogen und zum sinnlich-anschaulichen Ausdruck gebracht.

So werden, anders als beim Tanz, in den eurythmischen Bewegungen die Bewegungsgesetze, die der Sprache und der Musik zu Grunde liegen, ausgeführt und durch die Bewegungen der Arme, der Beine und durch die Gesamtchoreographie sichtbar gemacht.

Sprache und Musik übersetzt in die Bewegungen des menschlichen Körpers – das ist Eurythmie und stellt in der Kunstentwicklung etwas völlig neues und einmaliges dar.

Ebenso neu und einzigartig ist das Anliegen der zur gleichen Zeit initiierten Waldorfschulbewegung, in deren Mittelpunkt die gesunde Entwicklung des werdenden Menschen als freie Individualität unter Berücksichtigung all seiner seelischen und geistigen Veranlagungen und Begabungen steht.

Diesem Anliegen dienend wird die Eurythmie in ihrer pädagogischen Form bereits im Kindergarten eingesetzt und, in der pädagogischen Fachliteratur auch als „beseeltes Turnen“ bezeichnet, in der Waldorfschule von der 1. bis zur 12. Klasse unterrichtet.

Sie unterstützt den jungen Menschen dabei Willensinitiative, innere Beweglichkeit und soziale Kompetenzen zu entwickeln. Dadurch wird er befähigt, sich in der Bewegung nicht nur rein subjektiv-emotional zu äußern sondern er lernt, sein individuelles Seelenleben mit den lebendigen Gestaltungsgesetzen von Natur und Kosmos mitschwingen zu lassen.

Diese Übereinstimmung mit den großen gestaltenden Gesetzen des Lebendigen, die in Sprache und Musik ebenso wirksam sind wie in der Natur und im menschlichen Organismus, wirkt harmonisierend, ordnend und bildend auf den sich entwickelnden Menschen.

Darüber hinaus stellt das gemeinsame Bewegen von Raumformen und Laut- oder Tongebärden ein anspruchsvolles Übfeld für soziale Prozesse dar. Es werden Rücksichtnahme, Geistesgegenwart und Teamgefühl sowie das Bewusstsein für das eigene Wirken geschult. Damit verbunden sind ein erweitertes Raumgefühl, Koordination auf verschiedenen Ebenen und die Integration vieler Wahrnehmungen zu einem gemeinsamen Ganzen.

Am Ende der Waldorfschulzeit in der 12. Klasse bildet der künstlerische Abschluss einen besonderen Höhepunkt. Neben dem Klassenspiel, den Jahresarbeiten und der Kunst- oder Projektfahrt haben die Schüler und Schülerinnen die Gelegenheit, ihre während der Schulzeit erworbenen Fähigkeiten bei der Darbietung eines vielfältigen Bühnenprogramms im Fach Eurythmie anzuwenden und zum Ausdruck zu bringen.

A. Moos-Lange
Otterberg, im April 2020