Theaterprojekte genießen an Waldorfschulen einen hohen Stellenwert. Als noch stark chorisch getragene szenische Spiele beginnen sie schon in der 1. Klasse und gehören dann zu allen Stufen der Klassenlehrerzeit – an deren Ende finden sie einen krönenden Abschluss mit dem 8. Klass-Spiel, nun bereits deutlich individualisierter als in den Jahren zuvor. Zu den großen Abschlussprojekten und Reifeprüfungen der Oberstufenzeit gehört das Klassenspiel der 12. Klasse als ein gemeinschaftliches Gesamtkunstwerk, komponiert von den auch künstlerisch gereiften Individualitäten jedes und jeder einzelnen Jugendlichen. Warum ist uns diese Arbeit pädagogisch so wichtig? Im Folgenden wird eine Antwort aus verschiedenen Perspektiven versucht, insbesondere von langjährigen Regie-Erfahrungen auf der Oberstufe her.
Stellen wir uns zunächst die Frage nach dem Wesen des Darstellenden Spiels, so denken wir an „Verwandlung“, „Sich in eine andere Persönlichkeit hineinversetzen“. Schauspielen ist vor allen Dingen ein Spiel, ein freies Ausprobieren von Möglichkeiten innerhalb eines sozial verabredeten Rahmens (Regeln, Spielfeld, Bühne) Für den niederländischen Anthropologen und Philosophen Johan Huizinga geht sogar alle Kultur aus dem Spiel hervor, ja sie ist ihm ein Spiel, allerdings in voller Ernsthaftigkeit, wie sie schon kleine Kinder bei ihren „Als-ob-Spielen“ an den Tag legen. Dies zeigt die tiefe Innigkeit und Versunkenheit ihres Tuns! „Spiel“ und „Ernst“ sind keine Gegensätze! Wenn durch das Schauspielen fremde und andersartige Charaktere zum Leben erweckt werden, so bedeutet das eine Weitung der Seele, ein inneres Wachstum, eine Reise meiner Innerlichkeit in nahe und ferne Regionen menschlicher Daseinsverwirklichung. Die Kunst besteht darin, die gewählte Rollenfigur in der eigenen Seele zum Klingen zu bringen und diese Klänge in Sprache, Geste und Mimik überzeugend nach außen zu tragen und in das Spiel der anderen zu integrieren.
Und der Weg dahin?
Große Theaterlehrer verfolgten unterschiedliche Richtungen. Für Konstantin Stanislawski, den berühmten russischen Schauspieler, Regisseur und Mitbegründer des Moskauer Künstlertheaters, erwuchs ein glaubhaftes Agieren auf der Bühne allein aus den vom Spieler wachzurufenden Erinnerungen an frühere eigene Erlebnisse und Emotionen in vergleichbaren Situationen. Das aber, so seine Kritiker, berge die Gefahr des Schmorens im eigenen Saft: In naturalistischer Manier werde so immer nur vergangenes Erleben repliziert. Von Weitung der Seele kann insofern keine Rede sein. Für viele Theaterlehrer und -lehrerinnen an Waldorfschulen sind die Gedanken seines Schülers Michael Tschechow – eines Neffen des Dramatikers Anton Tschechow („Kirschgarten“ u.a.) – daher von höherem Wert, denn ihm ist das Ergreifen einer Rolle keine Nachahmung oder Neuauflage alten Erlebens, sondern eine Frage der kreativ schaffenden Imagination. Zur Schulung dieser „konkret anschauenden Fantasie“ entwickelte Tschechow eine Reihe von Achtsamkeitsübungen, die ich gern in das vorbereitende Training bei 12. Klass-Projekten integriere und hier kurz andeuten will: Eine dieser Übungen zielt darauf ab, frei gestaltete Bewegungen immer bewusster zu führen, sie dann mehr und mehr aus einem innerlich erspürten (Herz-)Zentrum fließen zu lassen, den ätherischen Bewegungsimpuls selbst in den Bühnenraum zu schicken und ihm auf dessen energetischer Bahn das physische Geschehen nachfolgen zu lassen. Mit gleicher Achtsamkeit gilt es, die immer kraftvoller erlebte Rollenfigur in einer wesentlichen und charaktervollen Grundgeste zusammenzufassen: in der von Tschechow so genannten „psychologischen Gebärde“. Diese „Ur-Geste“ kann, einmal tiefer verinnerlicht, dann zum Keim eines jeden neuen Auftritts werden.
Damit kommen wir zur künstlerischen, seelisch-geistigen Dimension des Theaterspiels: Die auszufüllende Rolle kann das seelische Vermögen wachsen lassen und zur Entfaltung bringen. Den so gehobenen Schatz aber gilt es zu formen, zu gestalten, mitunter auch einzuhegen, die rechte Mitte (im aristotelischen Sinne) zu finden. Anders gesagt: den Dreiklang des eigenen Denkens, Fühlens und Wollens zu einem Werkstoff und zugleich Werkzeug zu machen, mit dem man bis in seinen physischen Bewegungsmenschen hinein Neues schafft, Vielfalt entwickelt und dadurch Freiheitsgrade erringt. Große Zeugnisse der Dramenliteratur (der zeitgenössischen ebenso wie der klassischen) ermöglichen aus meiner Sicht eine solche Seelenweitung besser als manch gut gemeinte Jugendstücke, in denen Kinder und Jugendliche mehr oder weniger sich selber spielen und so allein aus eigenen Befindlichkeiten heraus ihr naturgemäß noch begrenztes Sein artikulieren.
Ein wenig Entwicklungspsychologie:
In der 7. und 8. Klasse, auf der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, klingt die Zeit der „Nachfolge“ aus. Natürlich verlangen die Jugendlichen auch weiterhin nach Orientierung an einer helfenden äußeren Form, die sie gleichwohl mit Lust immer wieder prüfen und herausfordern. So wird ein Regisseur oder eine Theaterlehrerin in der 8. Klasse sehr viele Gesten, Gänge, Choreografien und Sprachmodulationen gerüstweise vorgeben, sich allerdings beglückt fühlen und dies auch zeigen, wenn im Probenverlauf die Spieler und Spielerinnen zunehmend eigene Nuancen und Spielideen entwickeln. Formerfüllung führt zur allmählich individuelleren Formentfaltung. Um die 10. Klasse herum verstärkt sich dann der jugendliche Blick auf die eigene (bereits gelebte wie fragend erwartete) Biografie, und es erwacht die Sehnsucht nach deren selbstbestimmter Gestaltung. Die 12.Klass-Regie ist von Anfang an freilassender angelegt: Regie heißt für mich auf dieser Stufe eher Moderation, ein unablässiges künstlerisches Gespräch mit der Crew. Die fruchtbarsten Kritiker sind die sensibilisierte eigene Selbstwahrnehmung und die MitschülerInnen selber. Gleichwohl nimmt eine 12. Klasse inspirierende Spielideen, das klare Bild des „großen Ganzen“ und pragmatisch nachvollziehbare Probenpläne des regieerfahrenen Erwachsenen dankbar an. Hier passt das wenn auch etwas inflationär gebrauchte Wort von der „Begegnung auf Augenhöhe“ voll und ganz!
Der Leistungsgedanke
Wer sich vom Zauber eines gemeinschaftlichen Bühnenprojektes der ganzen Klasse einfangen lässt, für den und für die entwickeln sich die Klassenspielwochen schnell zu solchen der Schwerarbeit. Jedes Mitglied der Klasse muss (mindestens) eine Bühnenrolle ergreifen – für mich eine eiserne Regel; dazu kommen zusätzliche Herausforderungen der Kulissen- und Kostümgestaltung, der Licht- und Tontechnik, der Werbegrafik, der Mithilfe bei der Probenlogistik und der Regieassistenz. Achtstundentage sind jetzt die Norm, in der 12. Klasse kommen nicht selten einzelne Abende und Wochenenden dazu. Im Erleben, dass die eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten wirklich gebraucht werden, entsteht die Bereitschaft, die eigenen Grenzen auszuloten, gar „über sich hinaus zu wachsen“. Dies entspricht einer pädagogischen Grundeinsicht: Leichte Überforderung lässt wachsen, Unterforderung jedoch bremst die Entwicklung.
Selbsterziehung
Ein großes Theaterprojekt lässt alle Beteiligten auf vielen Ebenen persönliche Disziplin und Verlässlichkeit als notwendig und förderlich erleben. Der Vergleich mit dem Mannschaftssport liegt nahe: Unpünktlichkeit, mangelnde eigene Vorbereitung (Textunsicherheit) und mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber ganz praktischen Notwendigkeiten wirken unmittelbar lähmend auf den Gesamtprozess, und das entsprechende Feedback der Spielgemeinschaft ist in hohem Maße von erzieherischer Bedeutung. Eine Fülle von Achtsamkeiten sind bei den Proben gleichzeitig gefordert: Wann bin ich dran? Wo komme ich her? Was will oder soll ich in dieser Szene? Wo gehe ich hin und wann? Was sage ich wie zu wem? Wem gebe ich welche Spielvorlage? Verdecke ich niemanden? Agiere ich offen zum Zuschauer hin? u. v. m. Das ist Multitasking pur! Man muss nicht eigens betonen, dass sich hier in besonderem Maße lernen lässt, erhöhte Stressbelastung auszuhalten. Das gilt selbstverständlich auch für die erwachsenen ProjektbegleiterInnen. Ein Regisseur, der über Wochen so intensiv mit den durch eine solche Arbeit freigelegten Emotionen und Willensimpulsen einer ganzen Klasse umgehen muss, kann und will seine eigenen Empfindungen nicht verbergen, doch kann er versuchen, die eigenen Befindlichkeiten „im Griff“ zu behalten, was nicht ohne stetiges inneres Ringen möglich ist, aber umso mehr von Schülern und Schülerinnen als heilsam erlebt werden kann. Diese Art der Selbsterziehung kennzeichnet natürlich jede pädagogische Tätigkeit, sie scheint mir jedoch in der szenischen Arbeit im besonderen Maße gefordert zu sein.
Soziale Kompetenz
Wer Theater spielt oder Regie führt, agiert mit seinem gesamten Menschsein. Persönliche Stärken offenbaren sich ebenso unverhüllt wie subtile Schwächen. Erstere gilt es neidlos und dankbar zu begrüßen, letztere auszuhalten. Wie übe ich taktvolle, gesichtswahrende Kritik an der Mitschülerin, wie gehe ich damit um, dass der andere seinen Text immer noch nicht kann? Wie lerne ich, persönliche Korrekturen ohne reflexartige Rechtfertigungsversuche zu ertragen, ja sie als helfende Unterstützung wahrzunehmen? – Die Strahlkraft des eigenen Spiels gründet in hohem Maße auf den Vorlagen und der sozialen Wachheit der anderen. Spielfreude ist eine Form von Lebensfreude, und diese erwächst aus der kommunikativen Teilhabe am Gesamtprozess. Der Blick auf die Arbeit der Souffleuse kann das verdeutlichen: Gewissenhaftes, dienendes stilles Mitlesen ist die Grundverantwortung des Souffleurs; sodann muss er, muss sie lernen, beherzt und „unerbittlich“ bei Fehlern einzugreifen und so fast zwangsläufig manche Unmutsreaktion von der Bühne her auszuhalten. Diese Aufgabe verwandelt sich im Laufe der Probentage: Sensibel müssen echte „Hänger“ von Kunstpausen und wortloser Aktion unterschieden werden – treu und verlässlich werden die entsprechenden Stellen im Soufflage-Text notiert. Die Souffleuse schärft so allmählich ihren Sinn für die unsicheren Stellen einer jeden Spielerin und knüpft damit ein unsichtbares Netz des Vertrauens und der Geborgenheit.
Bewährung der kognitiven und der praktischen Intelligenz
Neben den szenischen Herausforderungen, die sich mit der Gleichzeitigkeit der verschiedenen Beweglichkeitserfordernisse im Dreiklang „Sprache – Gesten und Mimik – Gänge“ stellen, verlangt ein Klassenspiel viel kognitiv-logistische Findigkeit: Oft unter Zeitdruck müssen Lösungen für akut auftretende Probleme (Erkrankungen, Ausfälle) gefunden werden, Requisiten müssen verändert oder ersetzt werden, wenn sie sich als spieluntauglich erweisen. Mitglieder der „Technikgruppe“ (welche in der Regel auch eine Bühnenrolle ausfüllen) beweisen Koordinationsgeschick, wenn Ton- oder Geräuscheinspielungen mit der Beleuchtungsregie und dem Geschehen auf der Bühne in Einklang gebracht werden müssen – nicht selten in rasanter Abfolge!
Wer sich am Kulissenbau und am Bühnenbild beteiligt, findet die eigene handwerkliche Kreativität ebenso herausgefordert wie die Fähigkeit zur Präzision – schließlich müssen sich Türen verlässlich öffnen und schließen lassen, dürfen Podeste nicht umfallen. Die Kostümgestalter erleben ganz praktisch die vielfältigen Zusammenhänge zwischen dem Charakter einer Rollenfigur und deren (immer auch geschichtlich, stilistisch und farblich begründeter) Bekleidung.
Erweiterung der literarischen Kompetenz
In der Oberstufe werden im Literaturunterricht so manche Dramen in verteilten Rollen gelesen und im Gespräch analysiert. Leibhaftig erübte Klassenspiele aber können die sonst eher gedanklich zu durchdringenden Stil- und Dramatik-Merkmale ganz aus dem konkreten Erleben realisieren und so den Reichtum der dramatischen Kunst noch einmal ganz anders erfassen.
Der Gesichtspunkt der Sprachkompetenz
Die wochenlange Beschäftigung mit einem Drama durch wiederholtes stilles und lautes Lesen, das Erarbeiten des eigenen Rollentextes katapultieren die Lesefähigkeiten nach vorn, was ich immer wieder bei bis dato weniger flüssigen Lesern erleben durfte. Gezielte Sprachübungen zu Beginn der Probeneinheiten können die Klarheit der Artikulation steigern, der Sinn für angemessene Intonation und Modulation schärft sich. Dazu kommt die immense Steigerung der verbalen Kompetenz bei den Proben: Ist der Text noch unsicher, sucht man durch Paraphrase und kreative Eigenformulierungen eigene „Hänger“ zu meiden – wenngleich sie von der Souffleuse prompt und gnadenlos korrigiert werden (s.o.)! Großartige Synonyme werden da gefunden, Sätze umgestellt und neu konstruiert: So trainieren die Spieler unbewusst ihre aktive Sprachkompetenz – sie entwickeln ein Gespür für ihre innere generative Grammatik, mit der man Gedanken in Sätze verwandelt! Klar, dass es dabei auch viel zu lachen gibt! Ungewohnte Formulierungen des Autors, noch unbekannte Begriffe, Dialektanklänge und dezidierte Hochsprache lassen die Jugendlichen ihre Ausdrucksvielfalt erweitern, und zwar nicht allein für die Tage und Wochen nach den Aufführungen, wenn sie einander mit Textzitaten ansprechen! (Ich habe eine Klassenfahrt noch gut in Erinnerung, wo sich Mitreisende nach den „Schiller“-enden Jungen und Mädchen umsahen!)
Glückserlebnisse der schenkenden Teilhabe
Kommt man bei Schulfesten mit Ehemaligen ins Gespräch, fällt deren erinnernder Blick unweigerlich auch auf die großen Klassenspiele. Was in aller Regel geblieben ist, das ist das eindringliche Erlebnis eines wechselseitigen Geschenks aller an alle, eines tiefen Gemeinschaftserlebnisses, dessen soziales Klingen ein Leben lang nachhallt.
Wolfgang Boomes